Dschungel mit einzigartigen Tieren und Pflanzen, flaschenförmige Baobab-Bäume, türkisblaues Meer vor schneeweißen Stränden und ein paar hundert Kilometer weiter im Hochland, Granitwände soweit das Auge reicht. Madagaskar ist ein außergewöhnliches Land, das für jeden etwas zu bieten hat. Georg und ich wollen uns hier unseren Traum erfüllen, das Abenteuer einer Bigwall zu erleben. Madagaskar, die sogenannte rote Insel begrüßt uns mit einer außergewöhnlich schönen Stimmung. Es hat gerade geregnet, Dunstwolken steigen vom warmen Teer der Landebahn in den vom Morgenrot gefärbten Himmel. Ein süßlich- holziger Duft begrüßt uns in einer völlig anderen Welt. So friedlich der Eindruck auf der Landebahn war, geht es im Flughafengebäude hektisch zu. Hunderte von Menschen stürzen sich auf uns Ankommende und versuchen uns das Gepäck aus den Händen zu reißen um uns in ihr Taxi, Hotel oder sonst wohin zu verfrachten. Wir wehren uns standhaft. Da sehen wir schon ein Schild mit unseren Namen, in diesem Moment bin ich sehr froh dass wir unsere Abholung und Weiterreise schon vorab organisiert haben. Doch die rasante Fahrt gleicht einem weiteren Flug! Selbst auf schmalen, kurvigen Bergstraßen fährt unser Pilot mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von gefühlten 120 km/h, brettert gnadenlos hupend durch Ortschaften und unternimmt haarsträubende Überholmanöver. Unangeschnallt werden wir auf der Rückbank des alten Jeeps fast 12 Stunden lang hin- und hergeworfen und ordentlich durchgeschüttelt. Am Rand des Andringitra- Gebirge, 300 km südlich der Hauptstadt Antananarivo, liegt einsam das Tsaranoro- Tal, welches von Kletterern als Yosemite Afrikas bezeichnet wird. Als wir vor 5 Jahren ein Bild des 800 Meter hohen Granitriesen Tsaranoro-Be im Internet entdeckt haben, war uns klar, irgendwann müssen wir dort hin. Besonders beeindruckt hat uns die Route Vazimba (800m, 7b), mit ihrem exponierten Biwakplatz auf einem 20 qm großen Fels-Ei mitten in der Wand. Von vielen namhaften Kletterern versucht, wurde diese Route 2001 schließlich von vier kühnen Südafrikanern bis zum Gipfel durchstiegen, seither aber nicht wiederholt. Da wollen wir hinauf! Endlich biegen wir auf eine Schotterpiste, die uns in das ersehnte Tsaranoro- Tal führt. Die Aussicht haut uns schier um – riesige Granitkolosse stehen direkt vor unserem Zelt. Nach einem Ruhetag akklimatisieren wir uns in den nächsten Tagen an drei weiteren Routen und gewöhnen uns langsam an die Zustiege, vor allem aber an die Hitze. Der Fels ist traumhaft rau und griffig, die Touren folgen interessanten Linien und die Abstiege führen uns durch dichten Dschungel und atemberaubende Oasen. Leider wird unser Tatendrang unerwartet von Isilda durchkreuzt, einem stürmischen Zyklon der uns eine Zwangspause von 3 Tagen beschert. So sehr wir den ersten Tag im Zelt genießen, verfallen wir ab dem zweiten Tag in trübe Stimmung und besorgte Gedankenspiele um unsere Bigwallroute. Ein riesiger Wasserfall durchzieht die Vazimba, es wird sicher Tage dauern bis die Risse und Kamine wieder trocken sind. Und was passiert, wenn uns so ein Zyklon mitten in der Tour überrascht, daran mögen lieber gar nicht denken, und tun es doch. Als das Wetter endlich wieder besser wird, beschließen wir gleich die Vazimba anzupacken. Tagelang schleppen wir Material zum Einstieg, pendeln wie die Maultiere zwischen Vazimba und Camp hinauf und herunter. Am vierten Tag haben wir endlich alles beisammen und errichten unser Basislager direkt am Wandfuß. Bei Mittagstemperaturen um die 30°C im Schatten könnte man auf den Felsen Eier braten, wir verkriechen uns im letzten Schattenrest und überdenken die weiteren Schritte. Am Nachmittag wollen wir die ersten Seillängen klettern und den schweren Haulbag hochziehen. Trotz der geneigten Platte erweist sich die Kletterei als sehr anspruchsvoll, die Routenfindung aufgrund der weiten Hakenabstände schwierig und zeitraubend. Doch damit nicht genug, das Hochziehen des Haulbags ist Schwerstarbeit, denn der Fels ist wie grobes Schleifpapier. Mit Mühe schaffen wir es den schweren Sack drei Seillängen hinauf zu bringen und unsere Seile zu fixieren bevor es dunkel wird. Nach einem weiteren Tag klettern, haulen und Seile fixieren steigen wir endgültig in die Wand ein. Zunächst also 250 Meter an den Fixseilen mühsam hinauf. Meine Aufgabe ist es die Seile im Aufstieg einsammeln. Unter dieser zunehmenden Last kommen mir die sonst so vertrauenswürdigen Seile, an denen ich hinaufsteige vor wie dünne Reepschnürchen, die jederzeit abreißen könnten! Als ich Stunden später endlich am obersten Stand ankomme, bin ich so kaputt, dass ich mich glatt zum schlafen hinlegen könnte. Dabei geht die Anstrengung jetzt erst los! Georg packt die erste 8er-Seillänge mit feuchtem Dachüberhang an, ich frage mich woher er die Kraft nimmt. Langsam arbeitet er sich den Riss unter dem Dach entlang und schwingt sich über die Kante, danach folgt eine Verschneidungs-Seillänge der Nächsten. Immer wieder verhängt sich der Haulbag und muss mühsam befreit werden, er raubt uns Kraft und Nerven. Noch ein Riss, noch eine Verschneidung- kaum zu glauben wie lang sich 200 Meter senkrechte Wand ziehen können. Die Stunden vergehen wie Minuten. Endlich erreichen wir die “Biwakhöhle”, eine steile Grasfläche die zwischen zwei Wände eingebettet ist. Keinen Zentimeter höher könnte ich noch steigen! Einige Zeit buddeln und scharren wir um die kleine Liegefläche etwas zu ebnen. Aber an Schlaf ist auf dem engen Platz dennoch kaum zu denken, in Bückstellung warten wir auf den nächsten Morgen. Endlich kommt der Sonnenaufgang, trotz einer ungemütlichen Nacht sind wir gut gelaunt und zuversichtlich. Die erste Hürde des Tages lässt jedoch nicht lange auf sich warten, der Haulbag verkeilt sich im Kamin oberhalb des Biwaks, ich mit meinem Rucksack auch und so fällt beim Versuch alles zu befreien das eine oder andere Schimpfwort. Vor uns liegt nunmehr die hoffentlich letzte Seillänge bevor wir endlich das markante Fels-Ei erreichen. Eine Rissverschneidung, die an senkrechter Steilbotanik endet, umgeben von brüchigen Wänden. Wo soll es da hinaufgehen? Zumal ich genau in der Schusslinie stehe, entscheidet sich Georg für die Botanik. Er wühlt sich durch Büsche, Bäumchen, Grass und Erde senkrecht nach oben. Im Bericht der Erstbegeher heißt es hier, “grab everything and spread the load”- krall dich in alles und verteile die Last. Ich muss furchtbar lachen als sich Georg beschwert, er sei doch kein Maulwurf. Als ich selbst in den Genuss dieser Seillänge komme, vergeht mir mein Humor recht schnell. Von der Schwierigkeit abgesehen, rieselt bei jeder Bewegung ein Schwall Erde auf mich herunter, fällt mir in Augen und Mund. Der Wind bläst mir den Rest von unten noch einmal ins Gesicht und paniert mich wie ein Schnitzel mit Dreck. Ich darf die Seillänge noch zweimal rauf und runter steigen um Haulbag und Rucksäcke zu holen, danach bin auch ich bedient. Voller Überzeugung erkläre ich, dass dies die erste und definitiv letzte Bigwall meines Lebens ist. Eine weitere Seillänge durch Dreck und Steilgras bringt uns zum Fels-Ei. Georg klettert hinauf und ein befreiender Jubelschrei bricht aus ihm heraus. Als auch ich da oben stehe, bin ich einfach nur stolz und glücklich. Wir sind die zweite Seilschaft überhaupt auf diesem haushohen Felsblock. Alle Strapazen sind schlagartig vergessen. Diese Aussicht und die exponierte Lage sind einmalig! Zur Feier des Tages gibt es einen Schluck Wasser und Kekse- beziehungsweise das, was von den Keksen nach zwei Tagen im Haulbag übrig geblieben ist, so etwas wie Keksmehl. Den Katta Lemuren- Schreien lauschend versinken wir in einen zufriedenen Schlaf. Angespannt geht es am nächsten Morgen weiter. Zwar müssen wir den Haulbag nicht mehr hinauf schleppen, denn wir wollen von hier aus den Gipfel stürmen. Dafür warten die Schlüsselseillängen auf uns. Dem schwierigen, scharfkantigen Riss zu Anfang fällt gleich Georgs Hose zum Opfer, sie hängt nur noch in Fetzen an ihm herunter. Und dann kommt der moosige, schlecht abzusichernde Kamin, der mir aufgrund des Berichtes der Erstbegeher schon zuhause Albträume beschert hat. Georg quetscht sich ungesichert die ersten 15 Meter zu einem Baum empor. Danach kämpft er sich die linke Körperseite in den offenen Rißkamin gepresst, den Druck von rechts über Reibung aufbauend, zentimeterweise 50 Meter nach oben. Die Zeit vergeht im Zeitlupentempo. Gefährlich weite Sicherungsabstände in einem Kamin, zu zweit in der Wand, allein im Tal und das auf Madagaskar. All dieser Druck fließt zusätzlich in die Schwierigkeit mit ein, klettert mit. Es war die krasseste Seillänge, die er je geklettert ist. Wir überwinden einen weiteren Kamin bis uns die Kraftlosigkeit nochmals zum Fels-Ei hinunter treibt. Am nächsten Tag kommt bereits beim Steigen an den fixierten Seilen eine tiefe Freude in mir auf, denn ich weiß jetzt, dass wir es schaffen können. Die letzten Seillängen führen uns über Reibungsplatten und durch Verschneidungen. Am frühen Nachmittag steigen wir auf einer riesigen Hochebene aus, stehen am Gipfelsteinmännchen und fallen uns in die Arme. Ein paar Augenblicke versuchen wir zu entspannen, die Aussicht zu genießen und zu begreifen, dass wir wirklich auf dem Gipfel stehen. Doch am Ziel sind wir erst, wenn wir wieder ganz unten sind. Zurück am Fels-Ei schlüpfen wir erlöst in unsere Schlafsäcke. Doch die Nacht bringt kaum Erholung, die Kälte raubt uns die letzte Kraft. Am Morgen nehmen wir gleich die lange Abseilfahrt in Angriff. Wir wollen vom Fels-Ei direkt hinunter seilen um die steinschlag-gefährdeten Stellen zu umgehen. Steil wölbt sich der Fels vor dem gähnenden Abgrund. Ich bin die Vorhut mit dem leichteren Gepäck und muss erkunden, ob die Seile zum nächsten Stand hinunter reichen. Sie haben sich weit links in einem Riss verfangen sodass ich sie nur stückweise befreien kann während ich immer tiefer gleite. Erst als ich schon fast 50 Meter unten bin, stelle ich mit Entsetzen fest, dass die Seilenden lose über dem Abgrund baumeln. Ich darf auf keinem Fall über das Ende hinaus seilen, sonst falle ich 500 Meter die Wand hinunter! Ich hänge zwischen zwei Steilwänden, das Gewicht meiner beiden Rucksäcke zieht mich schneller hinunter als mir lieb ist. Panik ergreift mich, ich fühle mich plötzlich so verletzlich. Ich versuche einen Haken anzupendeln, doch es dauert eine Ewigkeit bis ich ins Schaukeln komme während ich immer tiefer rutsche. Endlich erwische ich ein dünnes Ästchen und strecke mich zum nächsten Bohrhaken. Durchatmen. Georg kommt mit dem schweren Haulbag nach und so hängen wir beide mit all unserem Gepäck an einem einzigen Haken, hoffen dass er uns aushält. Als sich das Seil beim Abziehen keinen Zentimeter rührt, gehen meine Gefühle mit mir durch, warum muss immer alles so schwierig sein! Minuten später hänge ich wieder an einem der dünnen Halbseile und arbeite mich mit den Steigklemmen aufwärts. Etwa 60 Klimmzüge weiter oben stehe ich dort, wo ich vor Stunden angefangen habe und sortiere die Seile. Glücklicherweise können wir diesmal die Seile abziehen. Ein paar Stunden später haben wir beide endlich festen Boden unter den Füssen und das Seil rutscht das letzte Mal die glatte Wand herunter.
Natürlich wollen wir gleich aufbrechen, und lernen bei der ersten Klettertour schmerzhaft, dass eine schlecht geplante Unternehmung auf Madagaskar weitreichende Konsequenzen haben kann. Wir machten gleich mehrere Fehler auf einmal. Viel zu wenig Wasser, Wegfindungsschwierigkeiten auf den mit mannshohem Gras zugewachsenen Pfaden, unterschätzte Zustiegsdauer und nicht umgestellte Uhr auf Ortszeit führen unweigerlich zum Abstieg im Dunkeln. Was aufgrund der Vegetation ein zentimeterweises Vortasten mit den Füssen bedeutet. So gestaltet sich unser erster Felskontakt gleich zu einem unvergesslichen Abenteuer, das fast mit einem Biwak in den Reisfeldern geendet hätte. Das fängt ja schon einmal gut an!
Madagaskar
Bigwall-Abenteuer im Yosemite Afrikas