Patagonien

Patagonien – Im Sturm

Jahrelang haben wir Schnee und Eis gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Wir dachten, das ist nicht unser Ding- kalte Finger, nasse Füße, Klettern in Berg-schuhen und Aufstehen wenn andere ins Bett gehen. Eine wirkliche Meinung kann man sich aber erst bilden, wenn man etwas ausprobiert hat. Das sollte uns in vier Wochen Patagonien hoffentlich gelingen?!

Eingeflogen in ein mehrtägiges Schönwetterfenster, heißt es schnell einen Plan aufstellen. Ohne Orts- und Gebietskenntnisse, eine schlechte Idee. Auf dem Topo sieht so manche Tour einfach aus. Das hängt jedoch stark von den Verhältnissen ab, wie wir sehen sollten. Unser Vorhaben, die Poincenot zu klettern verwerfen wir schon beim ersten Anblick der verschneiten Zustiegsrampe- es ist kein guter Anfang für uns. Dennoch ist die Zeit nicht verloren, allein unter den mächtigen Fitz Roy zu steigen und die giganti-schen Gletscher zu bestaunen ist unglaublich schön. Am nächsten Tag erkunden wir das Nachbartal und steigen vorbei an der Laguna Sucia auf den Mojon Rojo, einen eher selten bestiegenen Gipfel mit super Ausblick auf das Fitz Roy sowie Cerro Torre Massiv. Wieviele Kletterer fahren hierher und können diesen Blick nicht einmal haben- was für ein Glück bei diesem Wetter hier zu sein!

Auch während der “Schlechtwetter-phase” haben wir kein wirklich “schlechtes” Wetter- Sportklettern und Wandern können wir eigentlich immer. Und ganz nebenher bekommen wir die nötige Fitness für unser eigentliches Ziel…Tito Carrasco!

Trotz heftiger Windböen und Nieselregen brechen wir auf. Die ersten 20 km auf der Schotter-piste gestalten sich zäh, zumal sich keine Mitfahrgelegenheit bietet. So ist unser Zustieg eben “by fair means”. Drei Stunden (?) später biegen wir endlich in ein Seitental ab. Der schmale Weg führt durch einen urigen Wald auf eine riesige Ebene und schließlich zum Lago Electrico hinauf. Eine windige Nacht im Camp Playita und weiter geht’s über den Marconi Gletscher zu unseren ersehnten Wänden im Pollonetal. Nach längerem Suchen errichten wir ein windgeschütztes Basecamp, spüren aber bereits wieviel Kraft uns der Zustieg bis hierher gekostet hat. Das morgige Schönwetterfenster wollen wir somit vorerst zum Auskundschaften nutzen. Unerwartet erreichen wir bei blauem Himmel und Sonnenschein mittags den Sattel des Tito Carrasco. Hier würde die reine Felskletterei losgehen, aber das Klettermaterial liegt unten im Zelt und wir sind mit unseren Kräften am Ende. Bitter, diesen wunderschönen Tag gipfellos ver-streichen zu lassen, aber das nächste Schönwetterfenster kommt bestimmt und wir werden es besser nutzen. So steigen wir den langen Weg ab und zurück zum Playita Camp am Ende des Lago Electrico, in der Hoffnung auf einen aktuellen Wetterbericht. Leider gefällt uns dieser reichlich wenig: in den nächsten drei Tagen nur Regen und Wind, danach eventuell ein weiteres Wetterfenster. Die Entscheidung fällt schnell, einer von uns muss Essensnachschub und einen verlässlichen Wetterbericht in El Chalten holen…

Das Schönwetterfenster kündigt sich für Montag-Dienstag an, so dass ich mit einem dicken Rucksack voller Essen sowie dem aktuellen Wetterbericht sonntags in Richtung Playita aufbreche – wie es Georg in den letzten zwei kalten, verregneten und stürmischen Tagen dort wohl ergangen ist? Irgendwie habe ich schon ein schlechtes Gewissen, ihn bei Reis und Tee im Zelt zurückgelassen zu habe, um seine Kräfte zu schonen war er dort geblieben, damit wir uns nicht beide durch hin und hergehen aufarbeiten und genug Kraft für den Gipfel bleibt – hoffentlich geht unser Plan auf.

Mittags sitzen wir wieder gemeinsam im tropfnassen Zelt an der Playita und trinken Tee. Für Nachmittag ist eine Wetter-besserung angesagt sodass wir in Richtung Highcamp unter dem Tito Carrasco weiter ziehen. 30cm Neuschnee bedeckt den sonst aperen Marconi Gletscher, auf dem wir uns mit den Stöcken sondierend lang-sam, meterweise voran arbeiten. Der mittlerweile wütende Schneesturm lässt Inlandeis-Gefühle aufkommen. Wir pflügen uns stundenlang durch knietiefen Schnee bis hinauf zu unserem Zeltplatz, den wir erst mühsam ausgraben müssen. Das Zelt wird quasi “fliegend” aufgebaut, ein Wunder dass wir es aufgestellt und fixiert kriegen. Die Nacht ist trotz Sturm und nassen Schlafsäcken relativ warm und als wir montagfrüh aus dem Zelt kriechen, können wir unseren Augen nicht trauen: Blauer Himmel und Sonnenschein!

An diesem wunderschönen Tag erholen wir uns: essen, trinken und beobachten im Fernglas wie Schnee und Eis langsam aus unserer Wand schmelzen. Der Dienstag ist als besserer Tag angesagt, wir bereiten alles für einen frühen Start und Gipfelversuch vor.

Wir verbringen eine unruhige Nacht mit Bildern von “Touching the Void” im Hinterkopf. Stündlich schaue ich auf die Uhr und sehne den Aufbruch herbei. Endlich zwei Uhr, wir kochen uns Tee und Essen Müsli. Eine halbe Stunde später steigen wir über die Geröllflanke und die steilen Schneefelder in zwei Stunden zum Einstieg. Mit Steigeisen und Pickel geht es 250 m über ein etwa 40 Grad steiles Schneecouloir hinauf zur Schulter des Tito Carrasco. Hier erwartet uns ein wunderschöner Sonnen-aufgang hinter dem Fitz Roy, die geschlossene Wolkendecke aller-dings macht uns stutzig. Wie war noch einmal der Wetterbericht, vormittags bewölkt danach reißt es auf? Bei solch tiefen Temperaturen ist an Kletterschuhe nicht zu denken. Die ersten leichteren Seillängen wollen wir erst einmal in Bergschuhen klettern. Als wir unter dem ersten Risssystem stehen, fängt es an zu schneien – wir vertrauen auf die Wetter-besserung und steigen weiter.

Risstechnik mit Bergschuhen und dicken Handschuhen, über Schnee und Eis – es geht erstaunlich gut. Wir stehen auf der Schulter direkt unter der Headwall, inzwischen klettern wir im Schneesturm. Aber der Gipfel ist nicht weit, viel-leicht 80 oder 100 Meter? Es ist saukalt, die Finger und Zehen eingefroren, die Risse stark vereist. Aber wer hier auf einen Gipfel will muss durchziehen, es gibt noch keinen triftigen Grund umzukehren, also weiter.

Georg kämpft sich mittels Pendel-quergang zu einer Felsnadel und dem Anfang eines Verschneidungs-systems hinauf, welches bis zum Gipfel zieht. Unsere Kälteleidens-fähigkeit ist fast erschöpft, ebenso unsere Kraft in solch widrigen Bedingungen zu Klettern. Die Füße rutschen, kaum ein eis- bzw. schneefreier Tritt oder Griff. Oft muss ich meiner bewährten Knietechnik vertrauen, da meine nasse Hose so wenigstens am Fels festfriert und die nötige “Haftung” bietet. Mit letzter Kraft zieht sich Georg über die Gipfelschuppe, bald danach komme ich als steif gefrorenes Bündel mit Rucksack nach. Nur noch ein paar Meter auf den Gipfelauf-schwung, im Schneesturm und ohne jegliche Sicht. Ein kurzes “Juhu” und nichts wie herunter bevor wir hier fest frieren. Zumal wir wahrscheinlich erst die dritte Seilschaft hier oben sind, gibt es keine eingerichteten Abseilstände. Ein paar Seilstücke und Schlingen über kleine Felsköpfe geworfen und hinunter geht’s. Glücklicherweise verhängt sich das Seil nur zwei-mal, lässt sich am Ende aber immer herunter ziehen. So stehen wir bald wieder unter der Wand am Zelt und können nach 16 Stunden Unter-wegssein endlich wieder in die Schlafsäcke kriechen.

Verrückt: am guten Tag haben wir uns ausgeruht und bei Sturm geklettert. Aber wir sind beide froh, den schlechten Tag trotzdem für unseren Gipfel genutzt zu haben, denn die Kraft für einen dritten Anlauf hätten wir möglicherweise nicht mehr aufgebracht. Zudem haben wir ein richtig “patagonisches” Erlebnis gehabt, das uns unvergesslich bleiben wird. Cumbre- das muss mit einem traditionellen Asado bei Don Guerra gefeiert werden!

Noch ein Schönwetterfenster vor unserem Rückflug, Wahnsinn! Die Gelenke und Muskeln schmerzen noch, aber wie können wir die Gelegenheit auf ein weiteres Kletterabenteuer einfach so verstreichen lassen?! Ein kleines Ziel mit verhältnismäßig kurzem Zustieg, eine schöne Abschlusstour soll es werden- die “Brenner Ridge” an der Aguja Guillaumet.

Unser Plan: am Montag noch bei schlechtem Wetter zum Basislager Piedras Negras hinaufsteigen, am Dienstag bei mäßigem Wind den Weg zum Einstieg unserer Tour erkunden und vor allem Spuren, am Mittwoche bei starkem Wind Ausruhen und Donnerstag früh an einem wind-stillen, sonnigen Tag kletternd Durchstarten. Ob der Wetterbericht diesmal verlässlich ist?

Wie geplant starten wir also um 3 Uhr früh- erst über Felsbrocken, bald in unseren festgefrorenen Spuren steil hinauf bis zum Sattel und hinein in den Sonnenaufgang. Irgendwie kommt mir das bekannt vor, wieder eine geschlossene Wolkendecke, oh nein! Nach einem kurzen Schneefeld muss sich Georg dem ersten Felsaufschwung stellen, gar nicht so einfach bei so viel Eis! Die anschließende Riss-Seillänge kenne ich bereits von Bildern- deswegen bin ich hier, also hinein in die eisigen Kletterschuhe. Tatsächlich haben die Bilder nicht zu viel ver-sprochen, in genialer Klemm-technik geht es einen schrägen Handriss hinauf, der sich nach oben hin öffnet und eine schöne Kamin-Verschneidung bietet. Genau mein Ding- also bis auf das Eis, die Kälte und die Uhrzeit. Aber wie es aussieht habe ich den richtigen Riecher gehabt: Georg bekommt danach wieder eine ekel-haft vereiste und schwierig zu sichernde Länge während mein Fingerriss drüber nach reichlichem Auspickeln wieder super zu klettern ist. Aber jetzt kommt die Crux- ein kurzes, ausgesetztes Stück über eine Platte und senkrecht an einem Felsbrocken hinauf. Erst im Nachstieg verstehe ich warum Georg, so grob meine heilige Müsliriegelpause störend, nach aufmerksamer Sicherung ver-langt hat. An wunderschönen Rissen und Verschneidungen geht es in weiteren 6 Seillängen am Grat entlang hinauf bis zum Gipfel-schneefeld. Wir haben es gar nicht richtig bemerkt, aber inzwischen ist auch die Wolkendecke aufge-rissen und wir haben ihn endlich, den sonnigen und windstillen Klettertag in Patagonien. Aber das Besondere enthüllt sich erst am Gipfel, es ist der gigantische Ausblick auf das gesamte Torre-Massiv, auf “unseren” Tito Carrasco, den Cerro Piergiorgio und Pollone sowie das strahlende Inlandeis- es haut uns fast um! Nie hätten wir geglaubt um wie viel intensiver hier ein Gipfel-erlebnis MIT Aussicht sein kann.

Wir versuchen alles in uns aufzusaugen. Der Zeitpunkt zur Umkehr kommt wie immer viel zu schnell, es ist unser Abschied von den patagonischen Zinnen und Türmen. Aber eins ist klar: wir kommen wieder!